37 Grad im August. Mein Islandpferd gehört zu den ganz besonders Fleißigen (man will die Stute fast einen Streber nennen) und beginnt schon wieder ihr Winterfell wachsen zu lassen. Reden kannst da nicht mit ihr – du würdest dem Tier wirklich gerne sagen, es möge bitte noch ein kleines bisschen warten. Zumal sie schwitzt, auch ohne geritten zu werden. Sie pumpt, als wäre sie außer Atem, auch wenn man sie am Abend aus der Box holt. Das wünsche ich meinem Pferd natürlich nicht, ich würde ihr gerne so eine Wetter-App vor die Nase halten, um sie davon zu überzeugen, dass es wahrscheinlich in einem Monat auch noch reicht, mit dem Winterfell – Aufbau zu beginnen. Aber klar – Natur ist Natur, die Tage werden kürzer und meine Náma erledigt große Arbeiten gleich mal gern sofort, dann hat sie es hinter sich.
Vor zwei Jahren war es schon mal so unerträglich heiß – damals wollten wir ihr helfen und sie am Hals scheren. Mit Hilfe 2er erfahrener Tierärztinnen und unserer ebenso erfahrenen Trainerin wollten wir Náma von einer hübschen Übergangsfrisur überzeugen – bloß – es ist uns nicht gelungen. Náma hatte etwas dagegen. Sie mag keine surrenden Rasierer. Definitiv nicht. Also haben wir es gelassen.
Was tut man aber? Wäre das Scheren überhaupt das Mittel der Wahl? Ich habe in letzter Zeit viel zum Thema „Tierfell“ gelesen. Es erfüllt wichtige Funktionen, einen Eingriff in diese Balance sollte man sich gut überlegen und am besten mit einem Tierarzt besprechen. Meine Neugier ist aber noch größer.
Deshalb hab ich mal bei Lilo Pritz, der erfahrenen Pferdetierärztin nachgefragt. Sie hat mir ein paar sehr, sehr interessante Infos zu diesem Thema geschickt. Aber … lest am besten selbst:
Lilo Pritz: „Haarige Sache … unsere Islandpferde haben ein ganz besonders ausgeklügeltes Thermoregulationssystem. Sobald die Tage kürzer werden beginnen sie, das feine, glanzvolle Sommerfell gegen das dicke, wollige, manchmal auch etwas struppige Winterfell zu wechseln.
Es ist nicht nur der dicke Wollpulli, den wir sehen, sondern eine regelrechte Klimatronic, die über wesentlich mehr, als nur Haare verfügt. Beginnen wir in der Tiefe, beim Speck … Alle Bewohner eisiger Regionen haben in der kalten Jahreszeit eine dickere Schicht Unterhautfett, um gegen die Kälte besser gerüstet zu sein. Zum Beispiel haben Eisbären und Robben eine bis zu 10cm dicke Fettschicht. Auch das Islandpferd neigt im Herbst zum Ansetzen einer solchen Isolierungsschicht, die nicht nur die Kälte aussperren soll, sondern auch die Stoffwechselwärme drin behalten. Denn aus Verdauungsprozessen und Muskelbewegung wird kostbare Körperwärme bereitgestellt. Als weitere Schicht steht dann die Haut, mit all ihren Funktionen dem Wärmeverlust im Weg. Blutgefäße unter der Haut und Schweißdrüsen regulieren den Wärmehaushalt. Und natürlich ist die Haut selbst eine effektive Schutzhülle, da sie auch wesentlich dicker als unsere ist.
Dann kommen auch schon die Haare in all ihrer Pracht, die durch die winzigen Muskeln an ihrer Verankerung in Position gebracht werden können, wie es der Körper braucht. Sind bei tiefen Temperaturen Luftpolster als Wärmedämmung gefragt, stehen die Haare zu Berge, damit dazwischen Platz ist. Wird’s allerdings wärmer, oder steigt die Körperinnentemperatur durch Bewegung, liegen die Haare flach am Körper, wodurch die Wärme eher entweichen kann.
Gegen den Regen gibt’s dann natürlich noch eine Talgschicht, die Haare und Haut wasserabweisend macht, wodurch wir dann oft sehen, dass bei Regen nur außen das Wasser läuft, aber innen alles trocken bleibt. Und in dieses ausbalancierte System kommen dann wir, die reiten wollen, arbeiten in der Halle, draußen umher galoppieren oder andere Aktivitäten fordern, um das System ins Wanken zu bringen. Wir bringen das Pferd mit diesem tollen Pelz natürlich leicht mal ins Schwitzen und deshalb schert man die Haare einfach weg, oder?
Grundsätzlich ein durchaus nachvollziehbarer Gedankengang.
Aber was passiert in den restlichen 23 Stunden eines Tages? Können wir jemals mit Decken das gewährleisten, was die körpereigene Klima – Automatik kann? Keiner steht in all der Zeit neben seinem Pony und nimmt bei Sonnenschein die Decke runter, um dann, wenn die Wolken kommen und ein Wind Abkühlung bringt die Decke wieder anzuziehen. Die meisten Pferde werden nur teilweise geschoren, wodurch beim Reiten die Wärme besser entweichen kann und das Pferd nicht so sehr ins Schwitzen kommt. Funktioniert sehr gut. Studien zeigen auch, dass die Körpertemperatur des gearbeiteten Pferdes mit Winterfell stärker ansteigt als ohne. Das Pferd ist nach dem Reiten weniger nass oder schneller wieder trocken.
Es bleibt die Frage, was geschieht in der übrigen Zeit. Kein Pferd kann die körpereigenen Möglichkeiten zur Temperaturstabilisierung nur teilweise aktivieren. Auch die gute, wasserabweisende Schutzschicht geht durchs Scheren verloren und der Regen kann bis zur Haut durchdringen, auch oder vor allem wenn nur ein Streifen oben entlang der Mähne geschoren ist! Und nass bis auf die Haut wird niemand gerne.
Ich will nicht sagen „Scheren ist böse“ und man muss unbedingt alle Haare am Pferd lassen. Das muss ohnehin jeder für sein Pferd selbst entscheiden. Ich wüsste allerdings nicht, mit welcher Frisur ich mein Pferd guten Gewissens im Offenstall stehen lassen könnte. Ich denke, dass jede Schur für ein Outdoor – Pferd Nachteile hat: oben regnet es rein, von unten kommt die Nässe und Kälte beim Liegen durch, das gilt natürlich auch für den Seitenstreifen und vollständig geschoren mit Decke erfordert ständige Kontrolle. Grundsätzlich bleibt die Entscheidung jedem selbst überlassen. Wir müssen nur aufpassen, dass wir unsere Robustrasse nicht nach Modetrends, sondern ihren Bedürfnissen entsprechend behandeln.“
miia: Danke, liebe Lilo für deine tollen Erklärungen. Das Scheren sollte man sich also gut überlegen. Wer weiß, wann es wieder kälter wird? Wer weiß, wann der feuchte Herbst die Blätter färben wird? Wann Morgentau und kalte Nächte kommen? Würde ein Scheren jetzt bedeuten, sie hätten einen schlechten Start in den Winter?
Lilo hat mir noch eine persönliche Erfahrung mitgegeben: „Ich denke, die Natur hat schon gute Möglichkeiten, und wir können ihr vertrauen, dass sie das im Griff hat. Ich hab mal im Frühling eine meiner alten Stuten geschoren. Die hatte ein richtiges dickes Bärenfell gehabt und sich echt schwer getan beim Fellwechsel … hab sie zuerst nur teilweise und dann ganz geschoren. Und dann … hat sie gefroren/gezittert und ich hab sie eingedeckt 🙂 . Hab mich irre geärgert! Du siehst: Du änderst ein sehr ausgeklügeltes System … sehr riskant!“
miia: Also am besten bei Unsicherheiten einen Tierarzt fragen. Für mich hat die Entscheidung ohnehin das kluge Tier getroffen. Náma weigert sich einfach, dass wir in ihr Fellwechsel-Management eingreifen. Also reite ich bei besonders hohen Temperaturen nicht und gönne ihr viiiiele erfrischende Duschen und ein Rund-um-Wellness-Programm. Ääääh, bzw. die liebe Anna macht das grad. Ich bin noch immer auf Urlaub und vermisse meine Pferde schon schrecklich.
Ich schicke euch allen ganz liebe Grüße aus dem hohen (kühlen) Norden!